In den letzten Wochen versuchen wir, die Ziele des Kremls zu verstehen. Berichte führender westlicher Medien über die Ansammlung russischer Truppen an den Grenzen der Ukraine wurden von ukrainischer Führung zunächst skeptisch angenommen. In Kyjiw zeigte man sich sogar erstaunt über diese Information und meinte, man verstünde nicht, warum sich die führenden amerikanischen Medien an Russlands „Propaganda-Kampagne“ beteiligen. Der Ton änderte sich auch dann nicht, als hochrangige US-Beamte, darunter US-Außenminister Anthony Blinken und US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, Besorgnis über die Anzahl russischer Truppen äußerten. Präsident Wolodymyr Selenskyj betonte, dass russische Truppen ständig an den Grenzen der Ukraine seien und der Westen dies erst jetzt bemerke. Andere ukrainische Regierungsbeamte sprachen im gleichen Ton.

Aber allmählich änderte sich der Ton der ukrainischen Führungsebene. Der Leiter des Hauptnachrichtendienstes des Verteidigungsministeriums der Ukraine, Kyrylo Budanow, räumte die Möglichkeit einer russischen Invasion im kommenden Winter ein. Seitdem sprechen amerikanische, ukrainische und europäische Politiker mit einer Stimme.

Moskau beschuldigt seinerseits amerikanische Politiker und Medien, gegen Russland eine Propagandakampagne durchzuführen, und betont, Russland werde niemanden angreifen, es sei denn, die Ukraine würde es provozieren. Jedoch die Häufigkeit dessen, wie oft Moskau es öffentlich unterstellt, der Westen beliefere die Ukraine mit Waffen und Kyjiw habe aggressive Pläne, ist alarmierend. Denn sobald Russland anderen Ländern Provokationen vorwirft, bereitet es diese Provokationen in der Regel selbst vor.

Deshalb sind die Aussagen russischer Funktionäre und Propagandisten mit aller Sorgfalt zu analysieren. Russlands Sicherheitsratssekretär Nikolai Patruschew, einer der engsten Berater Wladimir Putins, hat den Westen erschreckt, indem er sagte, dass „die Ukraine jeden Moment auflodern kann“ und Millionen ukrainischer Flüchtlinge Europa destabilisieren würden. Patruschews Stellvertreter Oleksandr Hrebenkin behauptet, ukrainische Geheimdienste bereiten Sabotagehandlungen auf der Krym vor. Der sogenannte Leiter der Volksrepublik Donezk Denis Puschilin sagt, Kyjiw wolle das Donbas-Problem nach dem „kroatischen Szenario“ mit militärischen Mitteln lösen. Und der belarussische Machthaber Aljaksandr Lukaschenka, der Moskaus politischen Wünschen immer stärker nachkommt, wirft der Ukraine vor, die Lage in Belarus destabilisieren zu wollen.

All diese Aussagen lassen den Schluss ziehen, dass die russische Aggression aus mehreren Richtungen gleichzeitig anbahnen kann – aus den besetzten Gebieten des Donbases und der Krym sowie seitens der Grenze zu Belarus, von wo die Hauptstadt Kyjiw am leichtesten anzugreifen wäre. Der Kreml scheint der ukrainischen Führung und dem Westen demonstrieren zu wollen, dass er bereit wäre, entschiedene Destabilisierungsmaßnahmen der ukrainischen Staatlichkeit zu ergreifen. Aber der Westen betont, er werde die Ukraine angesichts eines russischen Angriffs nicht allein lassen. Die USA erwägen neue Waffenlieferungen an die Ukraine, Großbritannien hat versprochen, im Falle eines russischen Angriffs Spezialeinheiten in die Ukraine zu entsenden, und Schweden ist bereit, Militärausbilder ins Land zu schicken.

Der Ton der Vermittler im Normandie-Format – der Staats- und Regierungschefs Deutschlands und Frankreichs – ist gegenüber Russland deutlich härter geworden, insbesondere nachdem der russische Außenminister Sergej Lawrow seine offizielle Korrespondenz mit Kollegen aus Berlin und Paris unter Verstoß jeglicher diplomatischen Etikette veröffentlichte. Es stellte sich dabei heraus, dass die Außenminister Frankreichs und Deutschlands nicht in Erwägung ziehen, Russland als Vermittler im Donbas-Konflikt zu betrachten sowie den direkten Gesprächen zwischen Kyjiw und den Marionettenregierungen der sogenannten Volksrepubliken zuzustimmen.

All dies kann einerseits Zuversicht wecken, aber andererseits – besonders in der Ukraine – schafft es eine angespannte Atmosphäre der Unvermeidbarkeit eines echten militärischen Konfliktes nicht nur zwischen Russland und der Ukraine, sondern auch zwischen Russland und dem Westen.

Wladimir Putin scheint dies sehr zu mögen. Auf einer Vorstandssitzung im russischen Außenministerium sagte Putin, dass eine so starke Spannung sogar sinnvoll sei, weil Russland auf diese Weise der zivilisierten Welt deutlich mache, welchen Preis die Letztere für die europäische und euro-atlantische Integration der Ukraine zahlen muss. Und diese Aussagen legen nahe, dass es weniger um Krieg geht, als vielmehr darum, eine Atmosphäre der Unvermeidbarkeit eines Krieges zu schaffen.

Wofür braucht der Kreml eine solche Atmosphäre? Wahrscheinlich ist der Versuch, die maximale Eskalation zu demonstrieren, mit der Vorbereitung eines möglichen zukünftigen Treffens der Präsidenten Russlands und der Vereinigten Staaten verbunden. Es ist kein Geheimnis, dass die Ukraine das Hauptthema der Gespräche zwischen den Präsidenten Russlands und der USA sein kann. Der Wunsch, die Situation mit dem amerikanischen Präsidenten zu besprechen, ist wohl einer der Gründe, warum der Kreml auf die Gespräche im Normandie-Format verzichtete und auch Angela Merkels Angebot ignorierte, ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs von Frankreich, Deutschland, der Ukraine und Russland noch vor ihrem Abtritt als Bundeskanzlerin durchzuführen.

Aber was möchte Putin dem US-Präsidenten vorschlagen? Einen Überblick über die Absichten Russlands gab Fyodor Lukyanov, einer dem Kreml nahestehender Experte und Vorsitzender des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik. In einem in der Zeitschrift „Russland in der globalen Politik“ veröffentlichten Artikel behauptet Lukyanov, dass die USA und Russland zwecks Spannungsabbau um die Ukraine in die Ausgangsstellung zurückkehren müssen, wonach andere Staaten nicht das Recht haben, eigenständig entscheiden zu können, welchen wirtschaftlichen und militärischen Allianzen sie beitreten wollen. Einfach ausgedrückt: Die europäischen und euro-atlantischen Integrationsversuche der Ukraine sollen stillgelegt werden. Aber nicht nur das. Lukyanov schlägt auch vor, zum Modell der „Finnisierung“ zurückzukehren.

Hier möchte ich kurz in die Geschichte zurückgreifen: Finnland konnte nach dem Zweiten Weltkrieg die Besetzung durch die Sowjetunion und die Errichtung des kommunistischen Regimes vermeiden. Das Land verlor aber dadurch die Möglichkeit einer eigenständigen Außenpolitik. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bekam Finnland die Chance, in die internationale Arena einzutreten. Moskau möchte der Ukraine einen ähnlichen Status erteilen, mit dem einzigen Unterschied, dass dies nur eine der Etappen der Aufhebung der ukrainischen Staatlichkeit durch Russland sein kann.

Wird der US-Präsident solchen Vorschlägen zustimmen? Dies ist eher unwahrscheinlich, aber Joe Biden wird offensichtlich nach Kompromissen und Möglichkeiten suchen, um einen militärischen Konflikt zu verhindern. Die ukrainischen Machthaber müssen ernsthafte Anstrengungen unternehmen, um sicherzustellen, dass solche Kompromisse nicht auf Kosten der Ukraine erreicht werden.

Somit kommen wir zurück zum Thema Vertrauen, worüber schon oft gesprochen wurde. Inwieweit genießt die derzeitige ukrainische Staatsführung das Vertrauen des Weißen Hauses und in welchem Maße beeinflusst sie die Position des US-Präsidenten und anderer amerikanischer leitender Politiker? Inwieweit schaffen es die Ukrainer, ihre Meinung noch im Vorfeld des Putin-Biden-Gipfels der US-Administration zu vermitteln?

Dies ist keine leichte Frage, insbesondere, wenn man sich daran erinnert, dass eine Einladung des ukrainischen Präsidenten nach Washington erst nach dem Treffen der amerikanischen und russischen Präsidenten und nach dem Beschluss der US-Regierung, der Fertigstellung von Nord Stream 2 nicht im Wege zu stehen, erfolgte. Viele Experten sind übereinstimmend darüber, dass der Start dieser Pipeline den möglichen russischen Angriff erleichtern wird. Aber hat Washington aus den Konsequenzen um Nord Stream 2 die richtigen Schlüsse gezogen? Und versteht man in der US-Hauptstadt die wahren Absichten von Wladimir Putin?

Witaliy Portnikow, Ukrainischer Journalist, politischer Kommentator, Autor und Meinungsbildner

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