2014 begann für die Ukraine eine neue Ära des Kampfes für die Unabhängigkeit. Die Ukrainer mussten mit Waffen in der Hand ihre Territorien zurückerobern, sowie für das Recht auf ein unabhängiges Leben und eine Zukunft mit der Europäischen Union kämpfen. Die letzten Tage sind für unser Land äußerst angespannt: Russland erwägt laut Geheimdienstquellen verschiedener Länder das Szenario einer schnellen großangelegten Offensive gegen die Ukraine in mehreren Territorien.

Ehemaliger Leiter des Auslandsgeheimdienstes der Ukraine, General der ukrainischen Armee, Berater des Präsidenten (2010-2014) Mykola Malomuzh nahm mehrmals an Gesprächen mit Putin teil. Im Interview mit Kateryna Bratko erzählte er, wie man die Position der Ukraine in schwierigen und angespannten Situationen richtig und überzeugend verteidigen soll.

Herr Malomuzh, neulich schrieb Bloomberg, der seine eigenen Quellen zitierte, über die Aufstockung russischer Truppen und Artillerie für eine schnelle Invasion der Ukraine von verschiedenen Standorten aus. Warum unternimmt der Kreml Ihrer Meinung nach solche Schritte?

Jetzt hat der Kreml eine neue strategische Position gewählt, dass er heute ein mächtiger Weltakteur ist. Ihm zufolge glaubt Russland, das Recht zu haben, bestimmte Territorien zu kontrollieren – die Ukraine, Belarus und die ehemaligen GUS-Staaten sowie den Nahen Osten wie Syrien und den Irak. Das heißt, Russland und Putin versuchen heute, das Machtmodell wiederherzustellen, das unter der UdSSR existierte. Daher sollten die Länder, die nach der Aussicht von Kreml der Union angehörten, unter seiner Kontrolle sein.

Aber die Ukraine entschied sich für die europäische Integration, was auch präzise in der ukrainischen Verfassung verankert ist, aber keinesfalls für eine Rückkehr in die UdSSR?

Laut Russland müssen die Vereinigten Staaten, die Europäische Union, die Türkei, China, Japan, Brasilien, die NATO und andere internationale Akteure ihrem Wunsch zustimmen, die Ukraine zu kontrollieren. Um dies zu erreichen, erhöht der Kreml seine militärischen Ressourcen, insbesondere die nuklearen, die nur mit denen der Vereinigten Staaten vergleichbar sind. In dieser Situation setzt Russland voll darauf und zeigt offen ihre Möglichkeiten. Und das nicht nur an der Grenze, sie zeigen gerne ihr starkes militärisches Potential, sie sind bereit für großangelegte Militäraktionen und verfügen über hypernukleare Waffen, die es nur in Russland und den Vereinigten Staaten gibt. Der Kreml spekuliert über die Verfügbarkeit solcher Waffen und macht vor allem bei Treffen mit Trump, Biden und anderen Weltführern starke Botschaften. Deshalb nehmen die Amerikaner immer Rücksicht auf den Kreml.

Die Russen haben auch viel Einfluss auf die Europäer, insbesondere durch Gas und Öl. Ein strategischer Rohstoff ist Titan. Es wird von Giganten benötigt, u.a. auch von Waffenherstellern. Das heißt, Russland hat eine starke strategische Position. In dieser Situation sehen wir jedoch, wie sehr Russland das Völkerrecht und die Menschenrechte verletzt. Der Kreml geht sehr zynisch gegenüber der Ukraine vor, er führt Militäroperationen durch, annektiert Territorien und so weiter. Russland möchte, dass die USA und die NATO einem gewissen „quo-Status“ zustimmen, dass die Krym Russland gehört und dass in Donbas ein Bürgerkrieg herrscht. Generell nutzt der Kreml den Osten der Ukraine, um das Land zu destabilisieren und die Stabilität Europas zu bedrohen. Hierfür werden auch Informationskriege geführt.

Russland zeigt gerne seine militärischen Muskeln und somit auch seine Macht.

Der Kreml arbeitet sehr komplex. Sie passen schon auf, worauf Europa und Amerika scharf reagiert, in erster Linie auf Militäroperationen, deshalb halten sie ihre aktiven militärischen Übungen in Russland, Belarus und auf der Krym ab. Russland ließ bereits im vergangenen Jahr die Muskeln spielen, doch der US-Präsident warnte vor einem solchen Szenario und sprach mit Putin. Gleichzeitig braucht Putin auch solche Gespräche, die für Russland sehr wichtig sind. Ich denke, der Kremlführer zeigt diese Stärke, um dann die Ukraine und deren Partner, von denen es abhängt, zu zwingen, keine Stellung zur europäischen Integration und zum NATO-Beitritt der Ukraine zu nehmen.

Russland möchte nicht, dass die Ukraine sich in Europa integriert. Kann Putin deswegen in einen offenen militärischen Konflikt eintreten?

Eines der Szenarien Russlands zur Destabilisierung der Lage in der Ukraine ist militärisch. Die russischen Truppen können entweder einen Teil der Ukraine wie den Südosten oder das gesamte Territorium des Landes einnehmen. Dies ist möglich, wenn Russland sieht, dass die Situation in der Ukraine unausgewogen und das Land selber unkontrollierbar ist. In dieser Hinsicht muss die ukrainische politische Führung die Gesellschaft harmonisieren und vereinen. Auch müssen gemeinsam mit europäischen Partnern die Positionen der Ukraine klar verteidigt werden, sowohl die diplomatischen und wirtschaftlichen, als auch diejenigen im Energie-, Finanz- und Verteidigungssektor.

Wir sehen, wie Russland die Welt manipuliert und eingefrorene Konflikte auf dem Territorium der Ukraine und Abchasiens schafft. In welchem europäischen Land kann Putin Ihrer Meinung nach den Konflikt eskalieren?

Im Moment sehe ich, dass Putin durch einen politischen Führungswechsel die gesamte Ukraine beanspruchen kann. Dies ist eines der Szenarien, an denen Russland aktiv arbeitet.

Der Kreml hat schon vor langer Zeit gesagt, dass sie ein Szenario haben, in dem sie nicht nur den Südosten, sondern das Land bis in die Westukraine nach Galizien einnehmen können. Aber die Ukraine hat starke Unterstützung von der NATO und einiger mächtiger Länder in diesem Block. Im Falle einer offenen militärischen Aggression werden sie sich nicht mehr neutral verhalten und sich nicht nur auf die Äußerung ihrer Besorgnis beschränken.

Ist die russische Gesellschaft Ihrer Meinung nach mental bereit für einen offenen Krieg mit der Ukraine?

Der Großteil der russischen Gesellschaft und Vertreter verschiedener Regionen werden über solche Entwicklungen äußerst besorgt sein. Dies wird von den Bürgern negativ wahrgenommen und sie können gegen Putin auftreten, der maximal 56% Unterstützung hat. In Russland ist auch nicht alles ruhig, sowohl in der Politik gibt es viele negative Szenarien, als auch im großen oligarchischen Sektor gibt es viele Unzufriedene.

Immerhin befinden sich große Geldsummen unter der Kontrolle westlicher Geheimdienste und großer Finanzgeheimdienste. Und das sind mehr als 1 Billion 250 Milliarden russisches Geld, das von den Geheimdiensten der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und anderer Länder kontrolliert wird. Dies ist ein weiterer Einflusshebel auf Russland, was in den Verhandlungen als ein handfestes Argument verwendet werden kann. Wir müssen zusammen mit unseren europäischen Partnern ein Szenario für die Verteidigung der Ukraine entwickeln. Natürlich ist dabei die Konsolidierung unserer Verbündeten äußerst notwendig.

Sie können Putin sogar Szenarien vorgeben, um aus der aktuellen Situation herauszukommen, in solchen Szenarien werden die Interessen der Ukraine in erster Linie berücksichtigt. Dies wird zum Teil mit den Interessen Russlands übereinstimmen, denn man muss explizit vermitteln, dass ein Krieg eine desaströse Situation für alle Beteiligten sein wird.

Sie haben bereits ein sehr wirksames Instrument Russlands wie Informationskriege erwähnt. Gerade diese Truppen bereiten moralisch die Gesellschaft, insbesondere die europäische Gesellschaft, auf die illegalen Aktionen des Kremls vor.

Erstens verfügt Russland über ein äußerst leistungsfähiges Modell der hybriden Informationskriegsführung. Russische Informationstruppen haben eine Angriffsposition gewählt. Ihr Konzept ist zu kämpfen und dabei alle anderen Länder zu beschuldigen, Russland gegenüber aggressiv zu sein. Obwohl es keine solche Aggression gibt. Aber der Kreml verwendet dieses Paradigma und beschuldigt alle außer sich selbst. Wir  und Europäer haben den Standpunkt gewählt, dass Informationsressourcen die Beratungen über eine friedliche Welt und nicht über Krieg hervorheben sollen.

Aber warum kann die Ukraine und Europa diesen Informationskriegen nicht wiederstehen?

Russland finanziert ihre Informationsressourcen viel besser als die Europäer das tun. Niemand in Europa investiert öffentliche Mittel in informationelle propagandistische Kampagnen, insbesondere gegen andere Länder. Aber Russland tut das. Sie haben eine mächtige Ressource auf Kosten von Öldollars, Gasschemas, Mineralien und so weiter. Es sind alles Millionen von Dollars.

Alle russischen Medien werden von riesigen Konzernen finanziert. Zum Beispiel von Rosneft, Gazprom. Gegen solche Wettbewerber ist es äußerst schwierig, einen Krieg zu gewinnen. Russland „überschwemmt“ Europa und auch andere Länder mit den Informationen, die für Moscow vorteilhaft sind. Zum Beispiel war ich vor kurzem in Frankreich und Deutschland, dort gibt es keine ukrainischen TV-Kanäle zu sehen, dafür aber gleich drei russische. Tatsächlich ist die ukrainische Position in diesen Ländern nicht vertreten.

Die enormen finanziellen und informationellen Anstrengungen, sowie die Arbeit der russischen Geheimdienste, die u.a. gute Erfahrungen in der Führung der Informationskriege haben, führen zum entsprechenden Ergebnis.

Die Russen nutzen nicht nur ihre eigenen Informationsressourcen, sondern gründen auch neue, wo ausländisches Kapital miteinbezogen ist. Es sind manchmal sogar demokratische Ressourcen, aber sie bilden eine unterstützende Position für den Kreml. Dabei wird Russland nicht als ein Aggressor vorgestellt, sondern als ein Land, das bereit ist, konstruktive Maßnahmen zu ergreifen. Es ist daher sehr schwer, diesem zu widerstehen, aber es ist notwendig!

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