Die erste ernsthafte Aufstockung russischer Truppen an der Ostgrenze der Ukraine fand im März 2014 statt. „Aufgrund der Destabilisierung in der Ukraine“ führte die Russische Föderation gleichzeitig mit  der Besetzung der Krym dringende Übungen in den Regionen Kursk, Belgorod, Rostow und Brjansk durch. Nach diesen Manövern in den an die Ukraine angrenzenden Regionen fand die Entkonservierung der seit Sowjetzeiten aufgegebenen Militärstützpunkten statt. So begann das Kontingent an der potentiellen „Ukrainischen Front“ zu wachsen, es wurden drei neue motorisierte Infanterie-Divisionen mit einem festen Standort in der Nähe der Ukraine in drei Grenzregionen eingerichtet. Im Sommer 2014 wurden diese Truppen bei den Kämpfen im Donbass teilweise eingesetzt, ihr Militärdepot wurde zur Ressource für den sogenannten bewaffneten Rebellen der selbsternannten Republiken.

Sowohl 2014 als auch in allen folgenden Jahren warnten die Geheimdienste der NATO und der Ukraine vor einer möglichen russischen Invasion der Territorien außerhalb der Donbas-Region. Es wurden verschiedene Angriffsrichtungen genannt. Die erste: der südliche „Korridor“ von Mariupol bis nach Odessa, der der Ukraine den Zugang zum Meer verwehrt und somit das Problem der Trinkwasserversorgung der Krym lösen wird. Die zweite: eine Kampagne in den Städten Charkiw, Dnipro und Saporischschja, die der Ukraine einen erheblichen Teil des wissenschaftlichen und industriellen Potentials wegnehmen würde. Und schließlich die Invasion aus der nördlichen Richtung, seitens Tschernihiw (und auch aus Belarus) – der kürzeste Weg nach Kyjiw. Dadurch könnte man schnell, wenn nicht die gesamte, dann zumindest die sog. linksufrige Ukraine besetzen und somit auf die Ausgangspositionen der Karte des XVIII. Jahrhunderts zurückkehren.

Laut Generalleutnant Mykhajlo Sabrodskyi, den ehemaligen Kommandeur der Luftsturmtruppen und derzeitigen Parlamentsmitglied der Ukraine von der Partei „Europäische Solidarität“, sind für einen modernen Krieg vier Bestandteile wichtig: informationeller, politischer, wirtschaftlicher und militärischer. Betrachtet man die aktuelle Lage an der russisch-ukrainischen Grenze, sind in erster Linie zwei Komponente bereits vorhanden – die militärische (Anhäufung von Truppen) und die informationelle.

Nach dem Sieg von Wolodymyr Selenskyi bei den Präsidentschaftswahlen verzeichneten russische Fernsehsender einen leichten Rückgang der Propaganda, doch seit er sich von der pazifistischen Rhetorik abwendete, wurden die Rufe nach einer „Befreiung der Ukraine vom faschistischen Regime“ wieder lauter. Wenn man sich einige der beliebtesten russischen TV-Shows mit einer sehr hohen Einschaltquote ansieht, so besteht kein Zweifel, dass die russischen Bürger moralisch auf die Notwendigkeit eines Krieges gegen die Ukraine vorbereitet werden. Die Motive bleiben unverändert: die NATO-Erweiterung zu verhindern, die russischsprachige Bevölkerung zu schützen und die historische Gerechtigkeit eines „einheitlichen Volkes“ wiederherzustellen. Stellen wir uns vor, morgen bekämen die russischen Truppen das Befehl, die ukrainische Grenze zu überschreiten, so wird zweifelsohne die öffentliche Meinung in Russland dazu bereit sein und die Mehrheit der Bevölkerung einer solchen Entscheidung zustimmen, wie es bei der Besetzung der Krym 2014 oder beim Krieg gegen Georgien 2008 der Fall war.

Was die eigentliche militärische Komponente betrifft, so liegt die Anzahl der nahe der ukrainischen Grenzen stationierten russischen Truppen bei etwa 100 Tausend Personen. Dies ist ungefähr die gleiche Anzahl, die im April 2021 während der Verschärfung der Lage zusammengezogen wurde. Damals wie heute sind die Erklärungen seitens Moskau dieselben: Wir verlegen unsere Truppen auf unserem Territorium, wie wir es für richtig halten, und wir bereiten keine Invasion der Ukraine vor. Solche Zusicherungen sind nicht beruhigend. Westliche Geheimdienste, unabhängige analytische Zentren und Medien haben wiederholt vor einer möglichen neuen russischen Aggressionswelle gegen die Ukraine gewarnt. Eine aktuelle Studie des Conflict Intelligence Team ergab, dass Russland diesmal ihre Truppen langsam, aber verdeckt zusammenzieht (die meisten Truppenverlegungen finden in der Nacht statt), und die stattfindende Aufrüstung ist schwer mit der Aufrüstung der ausschließlich dort stationierter Truppen zu erklären. Analytikern zufolge kann Russland Anfang nächsten Jahres eine ausreichende Truppenzahl an den ukrainischen Grenzen für eine Invasion ansammeln.

Kyrylo Budanow, Leiter der Hauptnachrichtendienststelle des Verteidigungsministeriums der Ukraine, teilt die gleiche Meinung. Nach seinen Schätzungen könnte Russland im Januar-Februar 2022 in die Offensive gehen. Bis dahin wird die militärische Komponente bereit sein.  „Russland bereitet einen Angriff vor, dem eine Reihe psychologischer Schritte vorausgehen. Diese sind bereits im Gange, um die Ukraine zu destabilisieren und ihre Verteidigungsfähigkeit zu schwächen, unter anderem die Proteste der Impfgegner und die Wagner-Affäre. Sie wollen Unruhen durch Proteste und Kundgebungen aufputschen, was zeigen soll, dass die Bevölkerung gegen die Regierung auftritt“, sagte Budanow in einem Interview für Military Times.

Für eine Invasion ist eine ausreichende Truppenzahl – in diesem Sinne hat Russland immer einen erheblichen Vorteil – nicht genügend. Wichtig ist der casus belli selbst – der Vorwand für einen Krieg. Russische hochrangige Politiker auf dem Niveau des Außenministers Sergej Lawrow und auf den unterstehenden Ebenen wiederholen oft die These von „NATO-Provokationen“ in der Ukraine. Damit meint der Kreml gemeinsame Übungen auf dem Schwarzen Meer oder den Einsatz von Bayraktar-Drohnen durch das ukrainische Militär.

Daraus folgt, dass alle gemeinsamen Manöver, der Erhalt und der Einsatz von Ausrüstung „made in NATO-Staaten“ von Russland als „Aggression des Westens“ angesehen werden kann, wodurch die Invasion als die „Verhinderung von heimtückischen Plänen der NATO“ bedingt wird. Tatsächlich war dies in der jüngeren sowjetischen Geschichte der Fall: Die Truppenverlegung nach Afghanistan im Jahre 1979 wurde mit der Notwendigkeit begründet, „den Amerikanern voraus zu sein“. Ein überzeugenderes Argument für eine neue Phase des Krieges könnte doch die eigentliche Destabilisierung innerhalb der Ukraine sein, von der Kyrylo Budanow spricht. Schwere Straßenunruhen können einen bequemen Informationsvorwand schaffen: In der Ukraine findet eine weitere politische Krise statt, und Moskau muss sie „retten“. Jedoch sind Proteste oder der „Wagnergate“ immer noch keine ausreichenden Gründe für eine Invasion. Auch ausgewachsene separatistische Aufstände nach dem Modell von 2014 sind unwahrscheinlich, da die ukrainischen Sicherheitsdienste gelernt haben, diesen Szenarien bereits im Keim ersticken zu lassen.

Das wirtschaftliche Argument für eine Aggression könnte darin begründet sein, dass das ukrainische Gastransportsystem keine strategische Rolle mehr für Russlands Energieexporte spielt. Dies beseitigt ein weiteres Hindernis für eine Invasion. Die Gaspipeline Nord Stream-2 wurde noch nicht in Betrieb genommen. Es ist unwahrscheinlich, dass eine militärische Aggression gegen die Ukraine den Start dieses Projekts beschleunigt, daher könnte die Ansammlung von Truppen nur ein „Muskelspiel“ bei den Aushandlungen des Gasexportes nach Europa sein.

Somit kann man feststellen, dass von den vier für die russische Invasion notwendigen Komponenten derzeit nur zwei am meisten vorhanden sind: die militärische und die informationelle. Der politische und wirtschaftliche Bestandteil sind noch unzureichend. Gleichzeitig ist die Aufstockung der Truppen und der Ausrüstung an der ukrainischen Grenze auch ein Test der Hilfsbereitschaft ukrainischer Partner im Falle einer russischen Aggression. Die Reaktion der USA, Kanadas und des Vereinigten Königreichs zeigte, dass diese Länder seit 2014 entsprechende Schlussfolgerungen gezogen haben und bereit sind, entschlossener zu handeln und die Verteidigungsfähigkeiten der Ukraine zu stärken. Paris und Berlin bleiben in ihren Einschätzungen und Handlungen gemäßigter, sprechen aber auch von der Unzulässigkeit weiterer Aggressionen und von neuen Sanktionen, falls diese zunehmen sollten.

Sollte sich die Anhäufung russischer Truppen als ein weiteres „Nervenspiel“ und eine Mobilisierungsmaßnahme des einsatzstarken Kampfbestandes der Armee herausstellen, wird dies eine weitere Etappe des neuen Kalten Krieges sein, der gelegentlich von wenig intensiven Provokationen und Konflikte begleitet sein kann, wie es bei den aktuellen Kampfhandlungen im Donbas der Fall ist.

Stepan Nasarenko, UKRAINISCHER JOURNALIST, PUBLIZIST, FREIWILLIGER

Alle Nachrichten ›