Worauf weist der Anstieg der russischen Truppen an der ukrainischen Grenze hin? Wie wird der Krieg aussehen, wenn er passiert? Was steckt hinter der polnischen Grenzkrise und wie bereitet sich der Westen, der Ukraine zu helfen? Kann die EU die Ukraine angesichts einer eskalierenden Energiekrise unterstützen? Die Zeitschrift „Brussels Ukraine Review“ stellte diese sehr schwierigen Fragen den Europaabgeordneten, Politikern der Ukraine und Weißrusslands sowie westlichen und ukrainischen Experten.

Witold Waszczykowski, Polnisches MdEP (Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten), Vorsitzender der EU-Ukraine-Delegation im Europäischen Parlament, ehemaliger polnischer Außenminister

Tausende Migranten nahe der polnischen Grenze zu Weißrussland sind keine polnische Grenzkrise. Es ist ein hybrider Angriff von Lukaschenko auf die EU-Grenze, nicht nur auf die polnische Grenze, sondern auch auf die von Litauen und Lettland. Und das sind nicht nur die Grenzen der EU, sondern auch die der NATO. Lukaschenko benutzt und täuscht Migranten, indem er ihnen sagt, dass sie über Polen nach Deutschland oder weiter in den Westen gelangen werden, wo sie sich legal befinden und Sozialleistungen genießen können. Die Migranten werden nicht darüber informiert, dass der Grenzübertritt zu Polen und zu weiteren EU-Ländern ohne entsprechende Visa illegal ist. Nach EU-Recht müssten sie Asyl beantragen und in einem Flüchtlingslager in Polen bleiben, was sie eigentlich nicht wollten.

Jetzt denkt jeder in Europa darüber nach, was hinter diesen Aktionen von Lukaschenko steckt. Wir gehen davon aus, dass dies Putins Szenario ist. Einer der Gründe, warum Putin Migranten nutzt, besteht darin dass Verhandlungen mit Europa aufgenommen werden. Denn sobald Verhandlungen zwischen Belarus und der EU beginnen, muss Lukaschenko offiziell als Präsident von Belarus anerkannt werden. Somit werden auch die bisher gegen Lukaschenko verhängten Sanktionen aufgehoben.

Auch könnte es als „Tarnung“ dienen, damit man die Lage in der Ukraine – die Konzentration russischer Truppen an der östlichen ukrainischen Grenze – übersieht. Während Polen und die EU mit Belarus beschäftigt sind, wird Putin einen Angriff auf die Ukraine starten. Beide Szenarien erscheinen glaubwürdig und können zeitgleich auftreten.

Der jetzige Zeitpunkt ist äußerst perfekt: Die EU ist mit internen Angelegenheiten beschäftigt und die USA haben es auch mit der Innenpolitik zu tun. Daher gibt es auf der internationalen Bühne ein Vakuum, das Putin mit seinen Handlungen füllen kann.

Es gibt eine Tendenz, dass Russen immer die Zeitperiode nutzen, wenn der Rest der Welt sich in Winterferien befindet. Dies ist eine passende Zeit. Ich glaube nicht, dass Putin einen totalen Krieg braucht, er kann es sich nicht leisten, die gesamte Ukraine zu besetzen. Er wird es auch vor der ganzen Welt nicht rechtfertigen können, er will eher ein neues sog. „Anti-Maidan“. Er will die ukrainische Regierung zwingen, Geld für Sicherheit und Verteidigung auszugeben, nicht für interne Reformen, die das Volk braucht und die sehr teuer sind. Demnach werden die Ukrainer mit der jetzigen Regierung unzufrieden sein, da sie sich auf Verteidigung statt auf innenpolitische Reformen konzentriert. Somit hofft Putin, dass die Ukrainer letztendlich ihre Regierung wechseln werden.

Dies bedeutet nicht, dass es zu keinem Konflikt kommen wird. Putin will eine Landverbindung zwischen Donbas und der Krym schaffen, weshalb einige Städte wie Mariupol in Gefahr sein könnten. Eine andere Option wäre, die Ukraine vom Schwarzen Meer abzutrennen. Somit wäre Odessa in Gefahr. Sollten solche Aktionen wirklich stattfinden, so könnten die Ukrainer unzufrieden werden mit der Regierung, die nichts zum Schutz der ukrainischen Gebiete unternimmt. Dann wären die Ukrainer erneut enttäuscht von der euro-atlantischen Integration, der fehlenden Unterstützung und Hilfe seitens EU und NATO und könnten sich vom Kurs der europäischen Integration abwenden und sich nach Russland umorientieren.

Russlands Medien und die Propagandamaschine bereiten bereits das Narrativ für eine Invasion vor. Es ist ein typisches Muster für Russland, alles auf den Kopf zu stellen. Sie geben gerne anderen die Schuld, anstatt ihre eigenen Handlungen wie z.B. die Konzentration von Truppen an der ukrainischen Grenze zu erklären. Moskau wirft der ukrainischen Regierung sowie die NATO- und EU-Mitgliedstaaten Abschreckung vor und erklärt, dass Russland – falls etwas passieren sollte – nur vorhat, die russische Minderheit in der Ukraine zu beschützen.

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