Die Russische Föderation übt weiterhin Druck auf die Ukraine und den Westen aus. Ihre Ziele sind seit langem bekannt – einen bequemen und nur für sie verständlichen Zustand des kontrollierten Chaos zu schaffen. Und obwohl wir die Ziele verstehen, versuchen wir immer noch, Moskaus Strategie „abzulesen“ und das Wichtigste zu verstehen: Wie kann man effektiv auf diese neue Realität der Konfrontation reagieren?

Schachspiel mit neuen Regeln

Seit dem Mittelalter ist es angebracht, politische und militärische Strategien mit Schachspiel zu vergleichen. Damals könnte man wirklich viele Gemeinsamkeiten finden – langsame Bewegungen, ein gemeinsames Regelwerk für die Spieler, ein offenes Schlachtfeld. Schach ahmte natürlich einen solchen Vergleich nach und übernahm in den Bezeichnungen der Figuren die mittelalterlichen Ritter, Bischöfe, Könige und Königinnen.

Aber sowohl die Technologie als auch die Politik haben seit damals einige Veränderungen erfahren. Wollen wir heute der Analogie zum Schach folgen, müssen wir die Politik als Simultanschach betrachten. Die Schachbretter liegen nicht nur vor den internationalen Großmeistern auf dem Tisch, sondern sind auch in allen möglichen – wie echten so auch fiktiven – Ebenen platziert. Wenn wir über das Spiel gegen Moskau sprechen, so beginnt der Kreml, während wir noch über unseren nächsten Schachzug nachdenken, Karten zu verteilen, um den Narren zu spielen.

Gleichzeitige Bedrohungen in vielen thematischen und narrativen Bereichen ist die Grundlage der derzeitigen Strategie Russlands. Der Mehrvektorcharakter der geschaffenen Bedrohungen sollte es nicht ermöglichen, auf jede einzelne Bedrohung zu reagieren, ohne die Gefahr einer Eskalation anderer Bedrohungen zu provozieren. Die Vielfalt der Bedrohungen wiederum erlaubt es nicht, die Reaktion zu vereinheitlichen und zwingt die Gegner dazu, die eigenen Kräfte zu verzetteln. Jede einzelne Bedrohung kann jederzeit als Ablenkung für eine andere Bedrohung verwendet werden, je nachdem wie es für den Strippenzieher dieses Chaos-Spiels praktisch ist.

Das Hauptproblem bei einem solchen geopolitischen Spiel ist gleichzeitig auch der Hauptvorteil dieses Ansatzes – es besteht die Regel, dass es keine Regeln gibt. Es sind flexible und vielfältige Ansätze, die entsprechend der aktuellen Situation und dem jeweiligen Kontext angewandt werden können. Lassen sie uns gemeinsam versuchen, die Strategie des Kreml-Betrügers im Detail zu analysieren und zu verstehen, welche Regeln er für die jetzige Krise vorgeschrieben hat.

Der Trumpf im Ärmel

Die Truppenaufstockung an der Grenze zur Ukraine wurde im vergangenen Monat zur wichtigsten Nachricht in allen Weltmedien. Und obwohl die ersten Berichte über aggressive Schritte Russlands, die von US-amerikanischen und britischen Geheimdiensten kamen, erstmals vom ukrainischen politischen Establishment ignoriert wurden, sind nun interne und externe Vorbereitungen für eine mögliche Winterinvasion bereits im Gange.

Gleichzeitig entwickelte sich eine andere Situation, die die Aufmerksamkeit sowohl westlicher Politiker als auch Journalisten auf sich zog – die Krise mit Migranten aus dem Nahen Osten an der Grenze zwischen Belarus und Polen. Das Problem mit den Migranten und die Verantwortung für die sich daraus resultierende humanitäre Situation wurde zu einem Stigma des europäischen Raums. Dazu trug in vielerlei Hinsicht Russland bei, die informationell und wirtschaftlich die negative Situation mit dem Migranten aufbauschte und die Schwerpunkte auf die notwendigen negativen Narrative setzte. Es wurde schnell klar, dass diese künstlich geschaffene Sachlage ein Element zur Ablenkung von der Aufstockung russischer Truppen an der ukrainischen Grenze war. Aber dies sind nur zwei Spiele aus einer ganzen Reihe von politischen Kombinationen.

Erinnern wir uns daran, dass zum gleichen Zeitpunkt, am 16. November, das russische Militär den alten sowjetischen Satelliten vom Typ Tselina-D in der Erdumlaufbahn mit der neuesten Antisatelliten-Rakete zerstörte. (Es könnte entweder das S-500-System oder das strategische Raketenabwehrsystem A-235 Nudol sein, die Russen haben die Testdetails nicht preisgegeben.) Die Zerstörung eines Satelliten im Orbit erzeugt ein echtes Weltraum-Schrapnell-Projektil: Jedes Fragment eines Satelliten, das sich in der Erdumlaufbahn bewegt, wird zu einer Art kinetischem Projektil, das andere Weltraumobjekte treffen kann, u.a. auch die Internationale Raumstation ISS, in der sich derzeit eine amerikanische Besatzung befindet.

Nur zwei Tage später, am 18. November, begann eine neue Eskalation des Berg-Karabach-Konflikts. Dabei versuchte Armenien sein Bestes, Russland einzubeziehen, das aber seine OVKS-Verpflichtungen völlig ignorierte. Aserbaidschan und Armenien warfen einander Provokationen vor, doch es waren die Aserbaidschaner, die sofort die taktische Initiative ergriffen und ihren Einfluss und Kontrolle in den von Armenien besetzten Teilen Berg-Karabachs ausweiten konnten.

Somit haben wir zwei Vorfälle, die verheimlicht werden müssen, und zwei andere Vorfälle, die aus informationeller Hinsicht dafür geeignet sind, die ersten beiden zu überlappen. Von der einen Seite die Ansammlung von Truppen an der Grenze zur Ukraine sowie die Weigerung, den Verbündeten zu unterstützen, von der anderen Seite – provokative und von den Medien sofort aufgegriffene Themen – die Zerstörung eines Satelliten sowie das Leiden der Migranten an der polnischen Grenze.

Einige Themen erfordern einen strategischen Ansatz seitens Moskau für deren Umsetzung, andere Themen, meist provokativ und sensibel, zielen ausschließlich auf die Informationsagenda und die Aufmerksamkeit des westlichen Informationsraumes. Das Verheimlichen eines der Narrative, wie z.B. die Stärkung der ukrainischen Streitkräfte angesichts der drohenden russischen Invasion, provozierte zunehmenden Druck auf das Migrantenthema und führte zu einer Flut von Gegenvorwürfen, eine humanitäre Krise verursacht zu haben. Dabei wird Russland von dem ohnehin schon fast als Vasallentum wahrgenommenen Regime des selbsternannten belorussischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenko unterstützt, der dadurch das subjektive Konfliktfeld verwischen ließ und ein Teil des Reputations- und Informationsschlages auf sich nahm.

Wie stellt man Kreml in eine Pattsituation?

Leider können wir derzeit nicht darüber sprechen, dem Putin-Regime einen Patt zu stellen. Dies ist eine Frage der strategischen Perspektive und viele einzelne Schachpartien müssen noch auf allen möglichen Plattformen gespielt werden. Wir können vorerst damit rechnen, Moskaus hybride Strategie mit einer Reihe von Gegenangriffen und Abschreckungen zu stoppen, und somit Bedingungen zu schaffen, dass die Fortsetzung einer solchen Strategie nicht den gewünschten Erfolg bringt und unverhältnismäßig teuer wird.

Welche Schritte müssen unternommen werden? Erstens, man muss lernen, flexibel und unkonventionell zu reagieren. Die Probleme von heute brauchen neue Lösungen. Standardmaßnahmen, wie Einführung von Sanktionen, Einreisebeschränkungen, politische Beschränkungen auf Kontakte und neue Projekte sind Basismittel, die zweifellos als die Grundlage der Abschreckungspolitik bleiben sollten. Doch in einer Zeit, in der unser Gegner ständig seine Taktik ändert, können wir uns nicht allein auf alte Maßnahmen verlassen. Warum nicht beispielsweise versuchen, unterdrückte nationale Bewegungen innerhalb Russlands zu unterstützen? Oder wäre es etwa nicht angebracht, die Umweltkomponente von Russlands Energieprojekten einmal unter die Lupe zu nehmen – nicht nur das berüchtigte Nord Stream 2, sondern auch Nord Stream 1, Jamal-Europa und South Stream? Wie wird Moskau auf den Versuch des Westens reagieren, alle Kriegsverbrechen des russischen Regimes zu kodifizieren, präzis abzuleuchten und eine Liste von Kriegsverbrechern zu erstellen? All diese Schritte mögen im Einzelnen klein erscheinen, aber als System können sie das Ausmaß und die Art eines Angriffes nachahmen, und somit auf den eigentlichen Angriff des Gegners auf Augenhöhe reagieren.

Zweitens müssen wir die Initiative zurückgewinnen. Bestimmte Kampfregeln werden auf allen Ebenen umgesetzt – vom üblichen Duell zweier wütender Kämpfer bis hin zu einer hybriden Konfrontation der Weltmächte. Eine dieser Regeln lehrt uns: um zu gewinnen, muss man die Initiative in eigenen Händen behalten und den Feind dazu zwingen, auf deine Handlungen zu reagieren. Auf diese Weise wird der Gegner genau das tun, was sie brauchen und zugleich keine Zeit haben, eigene Strategien zu entwickeln. Anfang 2021 konnte der Westen durch seine aktiven geopolitischen Bewegungen, neue Militärübungen und eine verstärkte Zusammenarbeit mit Verbündeten ausserhalbaußerhalb der NATO und der EU die strategische Initiative ergreifen und Russland dazu zwingen, auf neue Umstände zu reagieren, anstatt sie selbst zu schaffen.

Drittens, geht es um die Einheit. Dies ist die Supermacht, die der Westen und seine Partner fast jeder Bedrohung gegenüberstellen können. Ein Großteil der aggressiven Handlungen Russlands zielt darauf ab, eine vereinte Position zu zerstören und Alternativen im Westen zu schaffen – russische, ultrakonservative und antiwestliche Alternativen. Deshalb kann nur politische Zusammenarbeit, prinzipielle Einheit sowie ein gemeinsamer Standpunkt bei Konfliktsituationen die Grundlage dafür bilden, auf die hybriden Bedrohungen von heute zu reagieren.

In den modernen Konflikten ist das Entscheidende für den Sieg, das eigene Verständnis der Realität aufrechtzuerhalten. Die Vielseitigkeit der Realitätserfassung wird von Autokraten und Demokratiegegnern genutzt, um das Wesen der Begriffe zu verzerren und die eigene Aggression zu unterstützen. So sieht die aktuelle Aggression Russlands gegenüber der Ukraine und unserer westlichen Partner aus. Nur wer die wahre Realität versteht und den Mut und das Koordinationsgeschick hat, auf diese Bedrohungen zu reagieren, wird in der Lage sein, diesen modernen Krieg zu gewinnen.

Oleksandr Kraiev,  DIREKTOR DES NORDAMERIKA-PROGRAMMS “Rat für Außenpolitik “Ukrainisches Prism”

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